D. Tréfás: Schweizerisch-ungarische Beziehungen

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Titel
Die Illusion, dass man sich kennt. Schweizerisch-ungarische Beziehungen zwischen 1945 und 1956


Autor(en)
Tréfás, David
Erschienen
Zürich 2008: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
David Zimmer, Bern

Nachdem der 50. Jahrestag des ungarischen Volksaufstandes von 1956 und der nachfolgenden Aufnahme von über 12 000 ungarischen Flüchtlingen in der Schweiz auch hierzulande ausführlich begangen worden ist und in der Publizistik breiten Niederschlag gefunden hat, legt der Basler Historiker David Tréfás mit seiner Dissertation nun eine Untersuchung vor, die sich der Vorgeschichte dieser Ereignisse annimmt. Ohne Kenntnis der schweizerisch-ungarischen Beziehungen in der Zeit vor 1956 lässt sich die damalige grosse Anteilnahme der Schweizer Bevölkerung nämlich kaum nachvollziehen.

Anders als Christoph Späti in seiner vergleichbaren Studie zu den schweizerisch-tschechoslowakischen Beziehungen zwischen 1945 und 1953 rückt David Tréfás die kollektiven Identitäten der Schweiz und Ungarns in den Mittelpunkt, deren Konstruktion er als «machtpolitisches bzw. aussenpolitisches Instrument» versteht (S. 16). Seine Grundthese ist, dass «die spezifischen Ausprägungen der ‘kollektiven Identitäten’ zumindest in Teilbereichen der schweizerischungarischen Geschichte handlungsleitend wirkten» (S. 13). Der methodologischen Herausforderung, zwischen der kollektiven Identität und dem Eigen-/Fremdbild der Regierung auf der einen Seite und der Bevölkerung auf der anderen Seite zu unterscheiden, begegnet Tréfás, indem er nicht nur Quellen aus staatlichen Archiven in der Schweiz und in Ungarn heranzieht, sondern auch Archivalien von Privatpersonen und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie unzählige Presseberichte auswertet. Thematisch beschränkt er sich auf «vier Bereiche, die für die schweizerisch-ungarischen Beziehungen am aussagekräftigsten sind, nämlich die Segmente Politik und Diplomatie, Wirtschaft, Kirche und Emigration/Auslandskolonie» (S. 22–23). Diese vier Themenbereiche untersucht Tréfás in drei chronologisch aufeinanderfolgenden Teilen unterschiedlichen Umfangs: «Die Nachkriegszeit » (119 S.), «Im Kalten Krieg» (58 S.) und «Der Ungarn-Aufstand und die Schweiz 1956» (33 S.).

Dadurch, dass das gleiche Thema – z. B. die Kontakte zwischen Reformierten, Katholiken und Juden in der Schweiz mit ihren Glaubensbrüdern und –schwestern in Ungarn – während jeder dieser drei Perioden dargestellt wird, ergeben sich gewisse Redundanzen, die allerdings überhaupt nicht störend, sondern im Gegenteil sogar hilfreich sind. Eher störend sind hingegen die unzähligen Verweise auf andere Textstellen im Buch, die ein unablässiges Hin- und Herblättern mit sich bringen. Ein Beispiel: Auf S. 55 stösst man auf die nicht näher erläuterte «Tarr-Affäre», der man schon vorher einmal begegnet zu sein glaubt. Also blättert man einige Seiten zurück und findet auf S. 49 tatsächlich einen früheren Hinweis auf den «Fall László Tarrs», jedoch erneut ohne Details. Schlägt man die dortige Anmerkung 156 nach – wie die anderen Anmerkungen als Endnote in den hinteren Teil des Buches verbannt –, wird man auf S. 112 des Buches verwiesen, wo die «Spionageaffäre László Tarr» schliesslich doch noch ausführlich zur Darstellung kommt. Überdies wird in einigen Anmerkungen (z. B. 26, 405, 430, 562, 567, 637, 843) auf Literatur verwiesen, die im Quellen- und Literaturverzeichnis fehlt. Und weshalb Tréfás die wichtigen, für sein Thema relevanten Beiträge von László Mraz, Eckhard van Herck, Rita Lanz, Regula Schiess, Peter Keresztesy, Nóra Tátrai Infanger und Urban Stäheli, die er zweifellos kennt, nicht im Quellen- und Literaturverzeichnis aufführt, ist unverständlich.

Wie Tréfás aufzeigt, weisen die kollektiven Identitätsentwürfe der Schweiz und Ungarns fallweise divergierende oder konvergierende Züge auf, wobei deren Gegenüberstellung gelegentlich etwas schematisch wirkt. Die Petitpierre-Doktrin des damaligen Bundesrates (1944–1961) und EPD-Vorstehers Max Petitpierre – Neutralität, Solidarität, Universalität, Disponibilität als aussenpolitische Maximen – betrachtet Tréfás geradezu «als Kodifizierung der kollektiven Identität der Schweiz» (S. 212). 1956 wurde Ungarn in der Schweiz dann «zu einem Kristallisationspunkt aller innenpolitischer Zwänge und Probleme …, und es bot sich die Chance, das im und nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute Selbstbild der Schweiz in die Tat umzusetzen, dem offiziellen Identitätsentwurf nachzuleben» (S. 216–217). Und weiter: «Angesichts der Untersuchung der Flüchtlingspolitik des Bundes im Bericht von Carl Ludwig, bot sich den Verantwortlichen nun die Möglichkeit, alles besser zu machen als damals. Der Ludwig Bericht lag schon 1955 vor, wurde aber zwei Jahre lang zurückgehalten. Dies ermöglichte es dem Bundesrat, seine Flüchtlingspolitik von damals ex post mit dem positiven Verhalten gegenüber den Ungarn-Flüchtlingen zu relativieren» (S. 227).

Geschichtsschreibung darf sich nicht auf die Darstellung der Ereignisse beschränken, sondern muss diese auch interpretieren. Zwar mögen sich einige Leserinnen und Leser – besonders solche, die die Ereignisse seinerzeit selbst miterlebten – daran stören, dass Tréfás das Verhalten der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges und den seiner Meinung nach übersteigerten Antikommunismus in der Nachkriegszeit kritisch bewertet, ja sogar einen Zusammenhang zwischen den beiden Phänomenen herstellt, doch Tréfás argumentiert stringent und überzeugend und stützt sich auf eine breite Quellenbasis. Sein Buch ist eine facettenreiche, dichte, gut geschriebene Geschichte schweizerisch-ungarischer Beziehungen im Nachkriegsjahrzehnt.

Zitierweise:
David Zimmer: Rezension zu: David Tréfás: Die Illusion, dass man sich kennt. Schweizerisch-ungarische Beziehungen zwischen 1945 und 1956. Zürich, Chronos Verlag, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 3, 2008, 200 S. 358-360.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 3, 2008, 200 S. 358-360.

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